Zeitzeugengespräch mit Frau Helber

Im Rahmen der Studienfahrt Berlin der Stufe 10 fand ein Zeitzeugengespräch statt. Am Mittwoch, dem 8. Februar, informierte die seit April 1979 in Rottenburg am Neckar lebende Konstanze Helber über ihre Erlebnisse mit der Stasi. Die Verbrechen der Staatssicherheit als Machtinstrument des DDR-Unrechtsstaates wurden in Berlin durch den Besuch des Gefängnisses in Hohenschönhausen und Museum in der früheren Zentrale in der Magdalenenstraße in Ostberlin vertieft.

74 Schüler*innen verfolgten die Ausführungen der 1954 in Camburg (heutiges Thüringen) geborenen Konstanze Helber. Geboren 9 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und 6 Jahre nach der Gründung der DDR im Jahre 1949 wuchs sie in einem kleinen Dorf auf. Im Sommer 1961 wurde sie eingeschult – 14 Tage nach dem Bau der Berliner Mauer. Damit war die Teilung der beiden deutschen Staaten endgültig. Ihre Eltern hatte sich arrangiert mit dem System. Sie als Kind wurde in den staatlichen Einrichtungen wie Kindergarten und Schule „indoktriniert“. Ihr Vater war ein Handwerker mit einem gut gehenden Betrieb. Da im Sozialismus und der Planwirtschaft seine Selbstständigkeit nicht gewünscht war, wurde sein Betrieb „in die Pleite getrieben“. Als die russischen Truppen in der Tschechoslowakei (CSSR) den Prager Frühling 1968 niederschlugen, war sie 14 Jahre. Da sie in Thüringen Westfernsehen empfingen, bekamen sie die ganze Wahrheit mit. Nicht nur hier verwies Frau Helber auf die Parallelen zur Gegenwart mit Putins „militärischer Sonderoperation“. Sie bekam Schwierigkeiten, weil sie für das Regime unbequeme und nicht systemkonforme Fragen stellte. Als renitente und wissbegierige Schülerin wurde sie nicht zum Abitur zugelassen, was sie als „Rache für ihr Verhalten“ bezeichnete. „Ich habe mich nicht mehr wohlgefühlt in diesem Land.“

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Ihre Bewerbung für eine Ausbildung als Kinderkrankenschwester wurde abgelehnt. Sie gehöre in die Produktion (herstellende Industrie, Verarbeitung), sagte man ihr. Gegen diese Entscheidung kündigte ich meinen Protest an in die Öffentlichkeit zu gehen. Im Rückblick meinte Frau Helber, sie habe einen Schutzengel gehabt, dass nicht in einen Jugendwerkhof (Erziehungsheim) gesperrt wurde. Ihr Protest hatte Erfolg – sie bekam einen Ausbildungsplatz. Als sie später keinen Arbeitsplatz bekommen sollte, kündigte sie erneut ihren Protest an wieder mit Erfolg. Der Unrechtsstaat nahm Bürgern wir ihr die Freiheit weg: Reisefreiheit, Meinungsfreiheit, Entfaltungsfreiheit und die Bildungsfreiheit.
Bei einem Urlaub in Bulgarien lernte sie einen Westdeutschen kennen. Eine Freundschaft entstand, die sich vertiefte. Beide wollten sich ein gemeinsames Leben im Westen aufbauen. Sie stellte einen .Ausreiseantrag. Obwohl der Wunsch nach Ausreise nicht verboten war, wurden viele Antragssteller in ihren Rechten stark eingeschränkt. Ihr Freund aus der BRD nahm Kontakt auf zu einer Fluchthilfeorganisation. Die Flucht wurde geplant, durchgeführt und misslang. Sie wurde im Kofferraum, ein extra umbautes Auto, entdeckt und verhaftet. Ihre Flucht wurde von einem Stasi-Spitzel in der Fluchthilfeorganisation verraten. Es folgte Stasi Untersuchungshaft mit Verhören am Tage und in der Nacht, Protokolle. Isolation – es war kein Besuch erlaubt und es durfte nur ein Brief im Monat geschrieben werden.
Es folgte die Verurteilung wegen illegalen Grenzübertritts zu 3 Jahren und 3 Monate Haft. Die Gefängnisstrafe sollte sie im DDR Frauengefängnis Hoheneck/Stollberg absitzen. Die Fahrt dorthin erfolgte in einem Transportwaggon der Reichsbahn der DDR, der heute im Stasi-Gefängnis in Berlin-Hohenschönhausen steht. Zu acht statt zu viert saßen sie in den Abteilen. Vom Bahnhof Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, wurde sie in einem LKW weiter transportiert, der von außen nicht als Gefangenentransport erkennbar war.

In dem in der DDR von 1950 bis 1989 als Frauengefängnis genutzten Gebäude bekam sie Gefangenenkleidung. Ein Kopftuch musste sie tragen „Wenn dir alles genommen wird, wirst du entmenschlicht. Wir hatten keinen Spiegel, wir haben uns angeschaut und uns gegenseitig beschrieben.“ Die Entindividualisierung wurde auf die Spitze getrieben, wenn die Frauen in der Stasi-Haft zugleich nur eine Nummer waren. In Hoheneck hatten wir unseren Namen mit dem Titel“ Strafgefangene“ vor dem Name wieder.
Frau Helber beschrieb den Alltag im zentralen Frauengefängnis. Verteilt auf verschiedene Kommandos waren 48 Frauen in meinem Verwahrraum. „Zelle durfte man nicht sagen.“ In der Mitte gab es einen Sanitärraum mit zwei Waschtrögen, kaltem Wasser und 2 WCs. In 22 Monaten konnte sie nur 2-mal duschen. Die Räume waren überbelegt, trotz der 3-Stockbetten gab es zeitweise Bodenschläfer. „Verdreckte Matratzen, schlechte Luft und viel Lärm“ führten zu einem schlafähnlichen Zustand der Angst. Die politischen Gefangenen waren zusammen mit Schwerstkriminellen, Mörderinnen und NS-Verbrecherinnen. „Schlechte Ernährung, kein Obst und Fleisch, undefinierbare Nahrung“ auf der einen Seite und der rüde militärische Umgangston auf der anderen Seite erschwerten die Haftbedingungen. Während der Näharbeiten schwollen ihre Beine dick an.
Die politischen Gefangenen mussten Zwangsarbeit leisten, für die sie nur einen Bruchteil des normalen Lohns erhielten. Circa 20 Mark der DDR. Wie sie später erfahren hatte, produzierte sie Bettwäsche für den Westen. Ihre Arbeit sorgte für Devisen, die der Staat DDR dringend benötigte.
Frau Helber kritisierte die fehlende Aufarbeitung der Zwangsarbeit durch die Firmen.
Zwiespältig sah Frau Helber das System des Freikaufs. Durch besondere Bemühungen BRD wurde sie über den „Freikauf“ als politische Gefangene in die Bundesrepublik aus der Haft entlassen, wie auch aus der Staatsbürgerschaft der DDR in die Freiheit. „Verraten durch die Spitzel, verkauft durch die DDR an die BRD und vogelfrei durch Herrn Dr. Vogel“, den Unterhändler für das „Freikaufgeschäft“, so Frau Helbers bitteres Urteil.
Mit politischen Gefangenen sorgte man also für eine Stabilisierung des Unrechtsstaates DDR – und die BRD hielt mit Krediten, dem Freikauf eben dieser Gefangenen und der Duldung der Zusammenarbeit von Westfirmen mit der DDR dieses Regime am Leben.
In der Osterwoche des Jahres 1979 kam sie in ein Notaufnahmelager im Westen. Seit 1979 lebt sie in Rottenburg am Neckar (bei Tübingen). Im Alter von 50 Jahren besuchte sie Hoheneck, das ehemalige Frauengefängnis, geschlossen seit 2001. Seitdem hat sie die Initiative ergriffen – zuerst für sich ihre Geschichte aufzuarbeiten, dann für andere. Sie sucht Mitopfer und gründet ein bundesweites Frauenforum für politisch verfolgte und inhaftierte Frauen der SED-Diktatur.. Frau Helber verfolgt zwei Ziele: Die Aufarbeitung der SED-Diktatur und die Errichtung der Gedenkstätte-Frauengefängnis Hoheneck Das größte Frauengefängnis der DDR, Hoheneck, wird zurzeit mit Fördermitteln des Bundes umgebaut und soll im Dezember eröffnen mit einer Dauerausstellung.
Ein „Schloss war HOHENECK“ nie, wie es unter den Bürgern der Stadt Stollberg genannt wird, aber der größte Arbeitgeber als Gefängnis.

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Nachdem die Schüler*innen Frau Helber aufmerksam zugehört hatten, stellten sie Fragen. Ob die Haft bleibende Auswirkungen auf ihr Verhalten und ihre Psyche habe – Türen müssen offen und nicht geschlossen sein, weil sie frische Luft brauche, Schlüsselklappern irritiere sie genauso wie bestimmte menschliche Nähe. Ob die Aufarbeitung ausreichend im Gange sei - im Osten sei das Thema DDR unpopulär. Was sie seit der Wende Neues erfahren habe – 2014 habe sie durch wiederholten Einblick in ihre Stasi-Akte erfahren, dass ihre beste Freundin aus Jena (die mit ihr Urlaub in Bulgarien verbracht habe) Stasi-Spitzel war. Was sie sich von der Gesellschaft wünschen würde? – darüber sprechen und die Erkenntnisse weitertragen.
Frau Helber persönliche Erkenntnisse: „Ich habe mich nicht brechen lassen, ich vertraue den Menschen, ich schätze die Menschen ein.“ „In dem Waggon wird klar, was Menschen Menschen antun können.“

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Herr Künstle, das Gymnasium Unterrieden und alle Schüler*innen bedanken sich bei Frau Helber für Ihr jahrelanges Engagement. Für ihr großes Engagement wurde Frau Konstanze Helber am 9. Juni 2022 von Bundespräsident Herrn Frank-Walter Steinmeier mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. Wir gratulieren nachträglich und freuen uns, Frau Helber im kommenden Schuljahr 2023/2024 vor der Berlinfahrt der Stufe 10 wieder am Unterrieden begrüßen zu dürfen.

 

 

Benjamin Künstle am 20.03.2023
6 Fotos, Copyright bei Herrn Künstle